hegel
-quell-texte

Das Ende der Kunst

< >

          Phil-Splitter          ABCphilDE    .    Hegel - Philosophen     .   Hegel - Religion       Info Herok

Der Engel des Wunderlichen

ABC Philosophie:   ABC DEF GHIJ KLM NOPQ RST UVW XYZ    A-Z        manfred herok   2014

Edgar Allan Poe

Der Engel des Wunderlichen

Eine Extravaganz

Es war ein kalter Novembernachmittag. Ich hatte gerade ein ungewöhnlich solides Mittagsmahl eingenommen, dessen nicht unwichtigste Schüssel die schwerverdaulichen Trüffeln gebildet hatten, und saß nun allein im Speisezimmer, die Füße auf den Kaminvorsetzer und den Ellbogen auf einen kleinen Tisch gestützt, den ich vor das Feuer gerückt hatte und auf dem verschiedene Flaschen Wein und Likör standen. Während des Morgens hatte ich Glovers 'Leonidas', Wilkies 'Epigoniade', Lamartines 'Pilgerfahrt', Barlows 'Columbiade', Tuckermanns 'Sizilien' und Griswolds 'Curiositäten' gelesen und will gern gestehen, daß mir jetzt ein bißchen dumm im Kopfe war. Ich gab mir alle Mühe, mich mit ein paar Gläsern Lafitte aufzurütteln, und als es mir nicht gelang, nahm ich voll Verzweiflung meine Zuflucht zu einer Zeitung, die vor mir lag. Nachdem ich sorgfältig erst die Rubrik 'Häuser zu vermieten' und dann die Rubrik 'Entlaufene Hunde' und dann die beiden Rubriken 'Durchgegangene Frauen und Lehrlinge' gelesen hatte, nahm ich mit großer Entschlossenheit den Leitartikel in Angriff; als ich ihn von Anfang bis zu Ende gelesen, ohne eine Silbe zu verstehen, kam mir der Gedanke, er sei vielleicht chinesisch geschrieben, und so las ich ihn vom Ende bis zum Anfang noch einmal, jedoch dito ohne befriedigendes Resultat. Ich war schon gerade im Begriff, voll Abscheu

Dies Zeitungsblatt, das einzige Werk,
Das selbst die Kritiker nicht kritisieren, wegzuwerfen, als ich fühlte, wie meine Aufmerksamkeit durch folgende Notiz erregt wurde:

'Die Wege zum Tode sind ebenso zahlreich wie seltsam. Ein Londoner Blatt meldet das aus den merkwürdigsten Ursachen erfolgte Ableben eines Mannes. Er spielte das Spiel 'puff the dart', bei welchem man eine lange Nähnadel durch eine kleine Zinnröhre gegen eine Scheibe bläst. Der Unglückliche steckte die Nadel in das falsche Ende der Röhre, und als er nun fest den Atem einzog, um sie kräftig herausblasen zu können, sog er sie in seine Kehle. Sie durchbohrte seine Lunge und tötete den Unvorsichtigen in wenig Tagen.'

Als ich das gelesen, geriet ich in eine maßlose Wut.

»Dieser Artikel, schrie ich, »ist eine erbärmliche Lüge – eine armselige Ente – er entstammt der Hefe der Phantasie irgendeines bedauernswerten Zeilenschinders, eines elenden Geschichtenfabrikanten aus Kalau. Diese Buben kennen die Leichtgläubigkeit unserer Zeit und setzen ihren ganzen Witz daran, unmögliche Möglichkeiten auszuhecken, ›wunderliche Begebenheiten‹, hehe! wie sie es nennen. Aber für einen nachdenkenden Geist (wie den meinigen, fügte ich in Klammern hinzu, und tippte unwillkürlich mit dem Zeigefinger auf meine Nase), für eine überlegene Intelligenz (wie ich sie besitze) ist es im Augenblicke klar, daß die wunderbare, gerade in letzter Zeit eingetretene Häufung der ›wunderlichen Begebenheiten‹ die wunderlichste aller wunderlichen Begebenheiten ist. Ich bin aber fest entschlossen, von jetzt ab nichts mehr zu glauben, was irgend etwas Wunderliches an sich hat.«

»Main Chott! wie dumm muß man sain, um so was zu sagen!« – antwortete mir eine der merkwürdigsten Stimmen, die ich jemals gehört habe.

Anfangs hielt ich sie für ein Summen in meinen Ohren, wie man es oft verspürt, wenn man sehr betrunken ist – dann jedoch schien sie mir mehr Ähnlichkeit mit dem Ton zu haben, den ein leeres Faß von sich gibt, wenn man mit einem dicken Stocke darauf schlägt. Ich würde sie in der Tat für dies Geräusch gehalten haben, hätte ich nicht die Artikulation der Silben und Worte vernommen. Ich bin von Natur absolut nicht ängstlich, und die unterschiedlichen Glas Lafitte, die ich geschlürft, trugen nicht wenig dazu bei, mir Mut zu verleihen. Deshalb empfand ich auch nicht die geringste Bestürzung, sondern erhob gemächlich meine Augen und ließ sie sorgfältig durch das Zimmer schweifen, um den Eindringling zu entdecken. Doch konnte ich niemanden erblicken.

»Pfui!« ließ sich die Stimme wieder vernehmen, als ich mit meiner Untersuchung fortfuhr, »Sie müssen cha wie ein S-chwain betrunken sain, daß Sie mich nich sehen, wo ich doch cherade vor Ihnen sitze.«

Hierauf fiel es mir ein, auch einmal direkt vor mich hin zu sehen, und da saß wahrhaftig, mir frech gegenüber, eine bis jetzt noch nie beschriebene, aber vielleicht nicht ganz unbeschreibliche Persönlichkeit: Der Körper war ein Wein- oder Rumfaß oder etwas Ähnliches und sah im wahrsten Sinne falstaffisch aus. Aus seinem unteren Teile ragten zwei länglichere Fäßchen heraus und schienen die Stelle der Beine zu vertreten. Als Arme hingen von der oberen Partie des großen Fasses zwei ziemlich lange Flaschen herab, deren Hälse den Dienst der Hände versahen. Der Kopf des Ungeheuers bestand in einem jener Flaschenkörbe, die aussehen wie eine riesige Schnupftabaksdose mit einem Loch in der Mitte des Deckels. Dieser Flaschenkorb, den ein Trichter krönte, wie ein über die Augen herabgezogener Hut, lag seitlich auf dem Faß, das Loch mir zugewandt, und aus diesem Loch, das verzogen und verrunzelt schien, wie der Mund einer sehr ceremoniellen alten Jungfer, entsandte die Kreatur gewisse rumpelnde und brummelnde Geräusche, die sie offenbar für verständliche Reden hielt.

»Ich maine«, begann das Geschöpf wieder, »Sie müssen betrunken sain wie ein S-chwain, daß Sie mich nich chleich chesehen haben, obwohl ich hier cherade vor Ihnen sitze; und ich maine auch, daß Sie dümmer sain müssen wie 'ne Chans, daß Sie nich chlauben, was in der Druckerei chedruckt wird! Das is die Wahrhait! Chedes Wort is die raine Wahrhait!«

»Bitte, wer sind Sie?« fragte ich voll Würde, obwohl ein wenig erstaunt, »wie kamen Sie hier herein, und wovon reden Sie?«

»Wie ich hier rainchekommen bin«, entgegnete das Geschöpf, »das cheht Sie char nichts an; und wovon ich spreche? Nun – ich spreche davon wovon mich chut dünkt zu sprechen; und wer ich bin? Ich bin cherade darum herchekommen, daß Sie es gelber sehen.«

»Sie sind ein betrunkener Vagabund«, sagte ich, »ich werde meinem Diener klingeln, das er Sie auf die Straße wirft!«

»Hi hi hi« lachte der Kerl, »hu! hu! hu! Was das ancheht – das können Sie cha char nich!«

»Das kann ich nicht?« fragte ich. »Was meinen Sie? Was kann ich nicht?«

»Sie können nicht s-chellen«, erwiderte er und versuchte, mit seinem scheußlichen kleinen Munde zu grinsen.

Daraufhin machte ich eine Bewegung, wie um mich zu erheben und meine Drohung auszuführen; aber der Raufbold neigte sich über den Tisch und versetzte mir mit dem Hals einer seiner langen Flaschen einen solchen Schlag vor die Stirn, daß ich in den Lehnstuhl, von dem ich mich halb erhoben, zurückknickte. Ich war grenzenlos erstaunt und wußte im Moment nicht, was ich machen sollte. Mittlerweile fuhr er in seiner Rede fort: »Sie sehen«, sagte er, »es ist das beste, wenn Sie chanz stille sitzen. Nun sollen Sie auch wissen, wer ich bin. Ich bin der Engel des Wunderlichen!«

»Wunderlich genug sind Sie allerdings«, wagte ich zu erwidern. »Aber ich hatte mir immer vorgestellt, daß Engel Flügel hätten.«

»Mein Chott! Flügel!« rief er höchst ergrimmt. »Was chehen mich Flügel an! Sie s-chainen mich wohl für ein Küken zu halten!«

»O nein! nein!« erwiderte ich besänftigend, »Sie sind kein Küken – gewiß nicht!«

»Das wollte ich auch chemaint haben! Aber nun betragen Sie sich chut, sonst chebe ich Ihnen noch eine ins Chesicht. Das Küken hat Flügel und die Eule hat Flügel und die bösen Chaister haben Flügel und der chroße Teufel hat Flügel. Engel haben keine Flügel, und ich bin der Engel des Wunderlichen.«

»Und die Angelegenheit, um derentwillen Sie mich aufsuchen...«

»Meine Angelegenheit?« schrie das gräßliche Subjekt, »himmlis-cher Vater, was fürn s-chlecht erzogener Mens-ch müssen Sie sain, daß Sie einen S-chentle-man und einen Engel nach seinen Angelegenheiten fragen können!«

Diese Sprache durfte ich mir nicht bieten lassen, selbst nicht von einem Engel; ich nahm all meinen Mut zusammen, ergriff ein Salzfäßchen, das in meinem Bereich stand, und schleuderte es dem Eindringling an den Kopf. Aber er wich aus oder ich hatte schlecht gezielt, kurz: die einzige Wirkung des Geschosses war die, daß es das Glas der Pendeluhr auf dem Kamin zertrümmerte. Der Engel jedoch hatte meine Absicht verstanden und erwiderte meinen Angriff durch zwei oder drei kräftige Schläge von der Art des ersten. Sie bestimmten mich, sofort unterwürfig zu sein; und ich muß mit Beschämung gestehen, daß mir, sei es aus Schmerz oder Zorn, einige Tränen in die Augen kamen.

»Main Chott!« sagte der Engel des Wunderlichen, offenbar durch meine Traurigkeit besänftigt, »der arme Mann ist entweder chanz betrunken oder sehr traurig. Sie müssen den Wain auch nich so stark che-nießen, Sie müssen ihm ein bißchen Wasser zusetzen. Hier, trinken Sie mal das, chuter Burs-che, und wainen Sie nich mehr, hören Sie, wainen Sie nich mehr!«

Gleichzeitig füllte der Engel des Wunderlichen mein Glas, das zum Drittel Portwein enthielt, mit einer farblosen Flüssigkeit, die er aus einer der Flaschen, die seine Arme vorstellten, fließen ließ. Ich bemerkte, daß die Flaschen Etiquetten und die Etiquetten die Inschrift Kirschwasser trugen.

Diese liebenswürdige Aufmerksamkeit des Engels besänftigte mich; und mit Hilfe des 'Wassers', mit dem er noch verschiedene Male meinen Wein versetzte, fand ich die genügende Ruhe wieder, um seinen höchst seltsamen Reden zu lauschen. Ich beabsichtige nicht, alles wieder zu erzählen, was er mir mitteilte, doch blieb mir noch im Gedächtnis, daß er behauptete, er sei der Genius, der über alle 'unangenehmen Zwischenfälle' der Menschheit herrsche, und es sei seine Aufgabe, jene 'wunderlichen Begebenheiten' zu veranlassen, die den Skeptiker fortwährend in Erstaunen setzen. Ein- oder zweimal, als ich wagte, seinen Behauptungen gegenüber meinem vollständigen Unglauben Ausdruck zu verleihen, wurde er so wütend, daß ich es für weiser hielte, nichts mehr zu sagen, und ihn ruhig gewähren ließ.

Er sprach denn auch noch lange weiter, während ich, in den Stuhl zurückgelehnt, die Augen schloß und mich damit amüsierte, Traubenrosinen zu kauen und die Kerne durch das Zimmer zu flitzen, der Engel jedoch faßte wohl schließlich dies Betragen als eine Beleidigung auf. Er erhob sich in fürchterlichem Grimm, zog den Trichterhut vollständig über die Augen, fluchte irgendeinen grandiosen Fluch, stieß eine noch grandiosere Drohung aus, die ich nicht reicht verstand, machte mir eine tiefe Verbeugung und verließ mich, indem er mir in der Art des Erzbischofs im Gil Blas 'beaucoup de bonheur et un peu plus de bon sens' wünschte.

Ich empfand sein Weggehen als eine wahre Erleichterung. Die paar Gläser Lafitte, die ich in kleinen Schlucken getrunken, hatten mich ein wenig schläfrig gemacht und das Bedürfnis nach dem gewohnten Nachmittagsschlummer von fünfzehn oder zwanzig Minuten in mir erregt. Um sechs Uhr hatte ich eine wichtige Verabredung, die ich keinesfalls versäumen durfte. Meine Feuerversicherungspolice war nämlich am Tage zuvor abgelaufen; und da irgendeine Änderung nötig geworden, hatten wir abgemacht, daß ich um sechs Uhr bei dem Direktorium der Gesellschaft erscheinen solle, um die Form einer neuen Police festzusetzen. Als ich nach der Uhr auf dem Kamin blinzelte (ich war zu schläfrig, meine Taschenuhr zu ziehen), bemerkte ich mit Vergnügen, daß ich noch gerade fünfundzwanzig Minuten für mich hatte. Es war halb sechs. In fünf Minuten konnte ich bequem das Büro der Feuerversicherungsgesellschaft erreichen. Meine übliche Siesta hatte noch nie die Dauer von fünfundzwanzig Minuten überschritten. Ich fühlte mich als vollständig beruhigt und schickte mich zu meinem Schläfchen an.

Als ich wieder erwachte, blickte ich auf die Uhr, und war fast geneigt, an 'wunderliche Begebenheiten' zu glauben, als ich sah, daß ich statt meiner gewohnten fünfzehn oder zwanzig Minuten nur drei geschlafen hatte. Ich überließ mich von neuem der Ruhe, und als ich ein zweites Mal erwachte, sah ich mit größter Verwunderung, daß es noch immer siebenundzwanzig Minuten vor sechs war.

Ich sprang auf, um die Uhr zu untersuchen, und bemerkte, daß sie stehengeblieben war. Meine Taschenuhr zeigte halb acht. Ich hatte zwei Stunden geschlafen; für die Verabredung war es natürlich zu spät geworden.

»Na – es wird wohl nichts auf sich haben!« sagte ich mir. »Ich werde morgen auf das Büro gehen und mich entschuldigen. Aber was mag denn nur mit der Uhr geschehen sein?«

Ich betrachtete sie genauer und entdeckte, daß einer der Rosinenkerne, die ich durch das; Zimmer geschnellt, als der Engel des Wunderlichen seine Rede hielt, hinter das zerbrochene Glas gedrungen war und sich so in dem Schlüsselloch festgesetzt hatte, daß ein Ende hervorragte und die Umdrehung des Minutenzeigers aufhielt.

»Aha«, sagte ich, »sehe schon, was es ist: etwas ganz Selbstverständliches, eine natürliche Begebenheit, wie sie hin und wieder vorzukommen pflegt.«

Ich legte der Sache denn auch weiter keine Bedeutung bei und begab mich zur gewohnten Stunde zu Bett. Nachdem ich eine Kerze auf dem Nichttisch entzündet und den Versuch gemacht hatte, ein paar Seiten über 'Die Allgegenwärtigkeit der Gottheit' zu lesen, fiel ich unglücklicherweise in weniger als zwanzig Sekunden in Schlaf und ließ das Licht brennen.

Meine Träume wurden durch die Erscheinung des Engels des Wunderlichen schrecklich beunruhigt. Es kam mir vor, als stände er am Fußende des Bettes, zöge die Vorhänge zurück und drohte mir mit den hohlen, abscheulichen Tönen eines Rumfasses bittere Rache an für die Nichtachtung, mit der ich ihn behandelt habe. Er schloß seine lange Ansprache, indem er seinen Trichterhut abnahm, mir die Röhre in die Kehle steckte und mich mit einem Ozean von Kirschwasser überschwemmte, das er in endlosen Fluten aus einer der langhalsigen Flaschen ergoß, die ihm als Arme dienten. Meine Todesangst wurde unerträglich, und ich erwachte gerade in dem Augenblick, als eine Ratte die brennende Kerze von dem Tischchen riß und mit ihr davonfloh. Doch konnte ich nicht mehr verhindern, daß sie sich mit ihrem Raube in ihr Loch flüchtete. Gleich darauf drang ein starker, erstickender Geruch in meine Nase, und ich mußte mit Schrecken bemerken, daß das Zimmer brannte.

In einer ganz unglaublich kurzen Zeit war das ganze Gebäude in Flammen gehüllt. Jeder Ausgang aus meinem Schlafgemach, ausgenommen der durch das Fenster, war versperrt. Die Menge auf der Straße jedoch verschaffte sich schnell eine lange Leiter und legte sie an das Fenster an. Ich stieg herunter und glaubte mich schon gerettet, als ein riesiges Schwein, dessen kugelrunder Wanst, ja, dessen ganze Physiognomie und Erscheinung mich durch irgend etwas an den Engel des Wunderlichen erinnerte – als sich dieses Schwein, das bis jetzt ruhig in seinem Morast geschlummert hatte, plötzlich in den Kopf setzte, seine linke Schulter müßte ein wenig gekrault werden, und keinen für den Zweck besser geeigneten Gegenstand finden zu können glaubte, als den Fuß meiner Leiter. Ich stürzte hinab und hatte das Unglück, einen Arm zu brechen.

Dieser Unfall sowie der Verlust der Versicherungssumme und der schwerwiegendere Verlust meiner Haare, die das Feuer versengt hatte, machten mich zu einem ernsten Menschen, so daß ich mich entschloß, eine Frau zu nehmen.

Es gab da eine reiche Witwe, die in Trostlosigkeit den Tod ihres siebenten Gatten beweinte – ihrer siebenmal wunden Seele bot ich den Balsam meiner Schwüre an. Nicht ohne keusches Zögern gewährte sie meinen Bitten Gehör. Ich kniete in Dankbarkeit und Anbetung zu ihren Füßen. Sie errötete, und ihre üppige Lockenfülle näherte sich mir so, daß sie in Berührung mit derjenigen kam, die mir die Kunst meines Friseurs für einige Zeit verliehen. Ich weiß nicht, wie es geschah – jedenfalls geschah es: Ich erhob mich ohne Perücke, mit glänzender Platte. Sie voll Verachtung und Zorn, halb in fremden Haarschmuck gehüllt. So endeten meine Hoffnungen durch einen Unfall, den ich nicht ahnen konnte und der doch nur die natürliche Folge der Ereignisse war.

Ich verzweifelte aber nicht, sondern unternahm die Belagerung eines anderen Herzens. Diesmal war mir das Schicksal eine Zeitlang gewogen; und doch kreuzte zum zweiten Male ein lächerlicher Zwischenfall meine Pläne. Ich traf meine Braut an einem Orte, an dem sich die Elite der Stadt zusammenfand, und wollte mich gerade beeilen, ihr meine respektvollste Begrüßung zu Füßen zu legen, als irgendein kleiner Fremdkörper in die rechte Ecke meines linken Auges geriet und mich für den Augenblick vollständig blind machte. Ehe ich wieder aufblicken konnte, war die Dame meines Herzens verschwunden – beleidigt, daß ich vorübergegangen, ohne sie zu grüßein; sie beliebte das wahrscheinlich als eine überlegte Grobheit auszudeuten! Während ich noch ganz verblüfft über diesen Zwischenfall stehen blieb
(der übrigens jedem unter der Sonne hätte passieren können) und noch immer nicht sehen konnte, wurde ich von dem Engel des Wunderlichen angeredet, der mir seine Hilfe mit einer Höflichkeit anbot, die ich keineswegs von ihm zu erwarten das Recht hatte. Er untersuchte mein verletztes Auge voll Sanftmut und Geschicklichkeit, belehrte mich, daß ich einen Tropfen im Auge habe, und (von welcher Beschaffenheit dieser 'Tropfen' auch war)
er entfernte ihn und verschaffte mir dadurch sofort eine große Erleichterung.

Da das Schicksal offenbar beschlossen hatte, mich nur zu quälen, schien es mir die höchste Zeit, zu sterben, und ich richtete schleunigst meine Schritte nach dem nächsten Flusse. Dort entledigte ich mich meiner Kleider
(denn es ist kein Grund vorhanden, weshalb wir nicht so sterben sollten,
wie wir geboren werden) und warf mich der Länge nach ins Wasser.
Der einzige Zeuge meines Unterganges war ein alter Rabe, der zuviel in Branntwein geweichtes Korn gefuttert hatte; davon war er betrunken geworden und hatte sich von seinen Kameraden getrennt.

Kaum war ich im Wasser angelangt, als es diesem Tiere einfiel, mit dem unerläßlichsten Teile meines Anzuges hinwegzufliegen. Ich schob meine selbstmörderische Absicht infolgedessen noch etwas auf, stieg wieder ans Ufer, glitt mit meinen unteren Extremitäten in die Ärmel meines Rockes und nahm die Verfolgung des Schurken auf; und zwar mit der ganzen Lebhaftigkeit, die der Fall erforderte und die Umstände gestatteten. Aber mein böses Geschick ließ noch nicht von mir ab. Als ich so in vollster Eile lief, die Nase in der Luft, meine ganze Aufmerksamkeit auf den Räuber meines Eigentums gerichtet, bemerkte ich plötzlich, daß meine Füße keinen festen Boden mehr faßten: ich war nämlich in einen Abgrund gelaufen, und wäre unfehlbar zu Tode gestürzt, hätte ich nicht zum Glück ein langes Tau ergriffen, das von einem gerade vorübersegelnden Luftballon herabhing.

Sobald sich meine Sinne so weit erholt hatten, um meine schreckliche Lage oder vielmehr mein schreckliches Hängen erkennen zu können, wandte ich meine ganze Lungenkraft an, dieses Hängen dem Luftschiffer über mir bemerklich zu; machen.
Eine Zeitlang strengte ich mich vergebens an. Entweder sah mich der Dummkopf oben nicht, oder der Schuft wollte mich nicht sehen.
Der Ballon stieg rapide, und meine Kräfte sanken noch rapider.
Ich wollte mich schon in mein Schicksal ergeben
und mich ruhig fallen lassen, als mein Mut plötzlich wieder durch den Ton einer hohlen Stimme belebt wurde, die von oben kam und in aller Gemütsruhe eine Opernmelodie summte.
Ich blickte empor und bemerkte den Engel des Wunderlichen.
Er lehnte mit gekreuzten Armen über den Rand der Gondel; und mit der Pfeife im Munde, aus der er gemächlich Rauchwolken blies, machte er den Eindruck, als sei er in bestem Einvernehmen mit sich selbst und dem ganzen Weltall.
Ich war zu erschöpft, um reden zu könne, und sandte nur einen flehenden Blick zu ihm hinauf.

Einige Minuten lang sagte er nichts, obwohl er mir voll ins Gesicht sah.
Dann endlich, nachdem er sorgfältig seinen Meerschaum von dem rechten in den linken Mundwinkel geschoben hatte, ließ er sich zum Sprechen herab.

»Wer sind Sie aichentlich?« fragte er, »und was, zum Teufel, wüns-chen Sie?«

Auf dieses Zeichen grenzenlosester Unverschämtheit, Grausamkeit und Verstellung konnte ich nur mit dem einen flehentlichen Worte »Hilfe!« antworten.

»Sie wüns-chen Hilfe?« fragte der Kirschwassermann. »Hoffentlich nicht von mir. Da haben Sie eine Flas-che – helfen Sie sich selbst und s-cheren Sie sich zum Teufel.«

Bei diesen Worten warf er mir eine große Flasche Kirschwasser zu, die mir gerade auf den Schädel fiel und mich glauben machte, es sei um mein Gehirn geschehen. Ich wollte infolgedessen schon das Tau loslassen und so auf gut Glück meinen Geist selbst aufgeben, als ich die Stimme des Engels wieder vernahm, die mir jetzt befahl, mich gut festzuhalten.

»Halten Sie sich chut fest!« rief er. »Sai'n Sie doch nich so ailich; haben Sie chehört? Wollen Sie noch die andere Flas-che chenießen, oder sind Sie endlich nüchtern cheworden und zu Verstande chekommen?«

Ich beeilte mich, zweimal energisch den Kopf zu bewegen, einmal verneinend, um ihm zu sagen, daß ich auf die andere Flasche verzichte, und einmal bejahend, um ihm mitzuteilen, daß ich vollständig nüchtern und bei Verstande sei.

Dies schien den Engel etwas zu besänftigen.

»Chlauben Sie denn nun wenigstens«, fragte er, »chlauben Sie nun an die Möglichkeit des Wunderlichen?«

Ich machte von neuem eine bejahende Kopfbewegung-

»Und chlauben Sie an mich, den Engel des Wunderlichen?«

Ich nickte wieder.

»Und Sie cheben zu, daß Sie 'n Trunkenbold sind und ein törichter Mens-ch?«

Ich nickte nochmals.

»Dann stecken Sie Ihre rechte Hand in die linke Ho-sentas-che zum Zeichen der vollen Erchebenheit che-chenüber dem Engel des Wunderlichen?«

Dies war mir, aus leicht verständlichen Gründen, ganz unmöglich.
Erstens war mein linker Arm bei dem Fall von der Leiter gebrochen, und wenn ich mich mit der rechten Hand nicht festhalten konnte, so konnte ich mich eben überhaupt nicht festhalten. Und zweitens hatte ich ja gar keine Hose mehr,
seit der Rabe sie mir genommen. Ich sah mich deshalb zu meinem größten Bedauern gezwungen, den Kopf zu schütteln, um dem Engel zu verstehen zu geben,
daß ich den Augenblick nicht für geeignet halte, seiner gewiß sehr vernünftigen Aufforderung nachzukommen.
Doch kaum hatte der Engel meine Bewegung bemerkt, als er losbrüllte: »Dann chehen Sie zum Teufel!« und mit einem scharfen Messer das Tau, an dem ich hing, durchschnitt. Da wir jetzt gerade zufällig über meinem Hause schwebten (das während meiner Irrfahrten wieder vollständig aufgebaut: worden war), ereignete es sich, daß ich der Länge nach durch den weiten Schornstein und in den Kamin meines Speisezimmers fiel.

Als ich wieder zum Bewußtsein kam (der Sturz hatte mich nämlich völlig betäubt), bemerkte ich, daß es ungefähr vier Uhr morgens war.
Ich lag an der Stelle, auf die mich mein Fall von dem Tau des Ballons geschleudert hatte. Mein Kopf wühlte, in der Asche des erloschenen Kaminfeuers, während meine Füße auf dem Wrack des kleinen, umgefallenen und dann aus dem Leim gegangenen Tischchens und zwischen den Bruchstücken eines reichhaltigen Desserts einer Zeitung, einigen Gläsern und zertrümmerten Flaschen und einem leeren Krug Kirschwasser ruhten.

 

Der entwendete Brief

Der Goldkäfer

Der Engel des Wunderlichen

Der Rabe

Das verräterische Herz

Schweigen

poe1

<<<    
Edgar Allan Poe

 ABCphilDE . Phil-Splitter . Hegel -Philosophen . - Religion . - Ästhetik . -Geschichte . -Quell-Texte . - Grundbegriffe . Herok info 

[Kunst und Wahn] [Hieronymus Bosch] [Triptychon innen] [Versuchung des Heiligen Antonius] [UnbekannteFlugObjekte] [10Gebote] [Der Verlorene Sohn] [Kreuzigung] [Auferstehung] [Angelus Novus] [Engel] [Literatur] [Prometheus] [Der Rabe] [Jiddische Sprache] [Malewitsch] [René Magritte] [Dies ist keine Pfeife] [Alle Seiten] [Impressum/Kontakt]

 manfred herok   2014

email:
mherok@outlook.de

Phil-Splitter

 

Abcphil.de

since Jan 2013 
ABCphilDE/Phil-Splitter         >DETAILS

Flag Counter